Der Genfer Barthélemy Menn gehört zu den bedeutendsten Schweizer Landschaftsmalern des 19. Jahrhunderts. Er hat die französische Freilichtmalerei und das Konzept der Paysage intime in die Schweizer Kunst eingeführt. Unter Paysage intime – zu deutsch vertraute Landschaft – ist jene Richtung der Landschaftsmalerei zu verstehen, die sich mit schlichten, einfachen Motiven befasste und seit den 1840er Jahren von Camille Corot und Vertretern der École de Barbizon praktiziert wurde. Die Bilder vermitteln keine geschichtlichen oder religiösen Inhalte, sondern vielmehr unspektakuläre Naturausschnitte aus der Sicht des Künstlers. In diesem Sinne war Menns Annäherung an die Natur damals in der Schweiz etwas ganz Neues und Modernes. Seine subtilen Naturdarstellungen standen im Gegensatz zu den bedeutungsschweren, idealisierten Landschaften seiner Westschweizer Kollegen, insbesondere zur heroisch gefärbten Alpenmalerei eines Alexandre Calame.
Barthélemy Menn (1815 – 1893)
Paysage lacustre
Öl auf Holz, 46 x 63.5 cm
Kunst Museum Winterthur
Menn kommentierte seine Landschaftsmalerei einst mit den Worten: «Dans un buisson, je vois tout.» / «In einem Busch sehe ich alles.» Dieses Verständnis für das Unspektakuläre in der Natur, wie auch die malerische Qualität von Menns Kunst faszinierten den Winterthurer Sammler Oskar Reinhart. Dank ihm besitzt das Kunst Museum Winterthur die bedeutendste Werkgruppe Menns nach dem Musée d’art et d’histoire in Genf. Geradezu perfekt fügt sich deshalb diese lichtdurchflutete Seelandschaft Menns, die uns die Freunde der Sammlungen Reinhart, Briner und Kern jüngst geschenkt haben, in die Museumssammlung und im Speziellen in die Bestände der Westschweizer Kunst, für die Oskar Reinhart eine besondere Vorliebe hatte.
Das Gemälde zeigt einen unspektakulären Landschaftsausschnitt an einem Seeufer: Links führt der Blick über das Wasser auf ferne Hügelzüge am anderen Ufer, in der Mitte wird das Bild durch eine Mauer geteilt, entlang derer auf der rechten Bildhälfte ein steinerner Weg zu einer einfachen Bootsanlegestelle hinabführt. Der Ort konnte noch nicht identifiziert werden, aber es könnte sich um eine Uferstelle am Genfersee handeln. Bestimmend sind das atmosphärische Zusammenspiel von Licht und gedämpftem Kolorit sowie die spontan wirkende, lockere Pinselschrift, wie sie für die Pleinairmalerei der Zeit typisch sind. Dabei zeigt sich der Einfluss Corots in den verriebenen Baumsilhouetten und der silbrig-grünen Tonalität der Vegetation. Mit dem Franzosen verband Menn eine enge Freundschaft. Gemeinsam haben sie in der Westschweiz Maltouren unternommen und malten mit anderen Künstlerfreunden den grossen Salon im Schloss Gruyère aus. Als Menn 1839 aus Rom nach Paris zurückkehrte, war am Salon die Kombination der Freilichtmalerei mit dem komponierten Atelierbild das aufsehenerregende Novum. Es stellte den Sieg über akademische Regeln dar und erneuerte die Atelierkunst mit Hilfe der Pleinairmalerei. Allerdings führte Corot die Tradition der Paysage historique in Form der Freilichtmalerei weiter und belebte seine Landschaften mit mythologischen oder pastoralen Figuren. Dies erklärt die vorliegende Landschaft, in der Menn die «moderne» Wirkung der Freilichtmalerei mit Staffagefiguren «salonfähig» machte.
Im April 2025 konnte das Gemälde von den Freunden der Sammlungen Reinhart, Briner und Kern in einer Auktion ersteigert werden. Das Kunst Museum Winterthur freut sich sehr, dass es auch im Bereich der historischen Sammlung geglückte Erweiterungen dieser Art geben kann und diese von den Freunden des Hauses massgeblich unterstützt werden.